Es gibt da etwas, das Ich das roter- Faden- Phänomen nenne. Ich kann es nicht gut erklären, aber ich glaube, dass viele von euch es kennen. Ich gebe ich euch ein
Beispiel:
Stellt euch vor, ihr steht morgens auf und macht euch einen Kaffee. Auf der Kaffeeverpackung, noch halb verschlafen, lest ihr dann, dass dieser herrlich duftende Kaffee aus Äthiopien stammt. In euren noch halb träumenden Köpfen, stellt ihr euch Äthiopien, als eine wunderschöne Landschaft vor. Stolze Frauen, in bunten Gewändern, sammeln Kaffeebohnen von grünen Sträuchern, in kunstvoll geflochtenen Körben, die sie auf ihren Köpfen tragen. Sie sammeln und sammeln, fröhlich, den ganzen Tag. Am Abend werden die Bohnen, während alle gemeinsam singen, in einer sonnengefluteten kleinen Hütte, von den Männern geröstet und die Menschen klatschen in die Hände. Sie lieben den Kaffee und ihr Leben und sind trotz harter Arbeit glücklich. Ein malerisches kleines Dorf gesunder Menschen am Fuße der Kaffeeplantage, unwirklich schön.
Was für eine Traumvorstellung. Besser als Schuldgefühle.
„Fair Trade“ steht da noch drunter und das findet ihr toll! So viel Aufwand, nur für oder doch eher wegen (?) dieser einen Tasse äthiopischen Kaffees, die ihr gerade in den Händen haltet. In euren Hinterköpfen läuft ein lauter werdendes „Hakunamatata“ (Diesen Spruch sag ich auch gern) und so schmeckt euch dann der erste Schluck Kaffee, wie der letzte Schluck heißer Kakao eurer Kindheit. Ein guter Start in den Tag. Äthiopien sei dank.
Dann schaltet ihr den Fernseher ein
und in den Nachrichten beginnt gerade ein Bericht über den Konflikt in Tigray. Das ist eine Region im Norden Äthiopiens. Dort wütet ein Konflikt der Nationalregierung Äthiopiens mit der TPLF (Volksbefreiungsfront von Äthiopien), die die Regionalregierung in Tigray bildet. Eine Frau wird für den Beitrag interviewt und erzählt, dass sie beinahe auf dem Feld erschossen worden wäre und eine Ärztin beklagt zahlreiche Vergewaltigungen unter ihren oft jungen Patientinnen. Die Nationalregierung erklärt ihren bewaffneten Einsatz in der Region nun aber für beendet, sie hinterlässt Chaos und Angst und mit diesem Gefühlsgemisch endet auch der Beitrag. Ein bisschen, als sei Pumba gestorben. Ihr schaltet den Fernseher ab und leicht gedankenverloren geht ihr zur Arbeit, Schule oder sonst wohin und euer Tag verläuft beinahe unspektakulär.
Aber als ihr auf dem Heimweg die Bahn nehmen wollt, fällt diese stundenlang aus, weil sich jemand in Todessehnsucht vor einen der Züge geworfen hat. Zuhause angekommen habt ihr den Vorfall fast vergessen und fallt todmüde in euer Bett. Es betrifft euch nicht.
Am nächsten Morgen, bei einer neuen Tasse dampfendem äthiopischen Kaffee,
öffnet ihr die App der Lokalnachrichten und lest folgende Überschrift: “Zugunglück- 24-Jähriger Äthiopier nimmt sich das Leben.“ In knappen Worten wird in dem Artikel beschrieben, dass der junge Mann, wohl stark alkoholisiert, in suizidaler Absicht, in einer belebten U-Bahn-Station, vor einen Zug der örtlichen Stadtbahn gesprungen sei und dass jede Hilfe zu spät gekommen sei. Wenn ihr zu der Kommentarspalte weiter scrollt, lest ihr Dinge wie „Wäre der besser in seinem Land geblieben!“ oder „Wen interessiert das? Einer weniger für die Sozialhilfe.“ Es ist schockierend und langsam bekommt der Kaffee einen Beigeschmack, der wenig mit der Stimmung zu Beginn zu tun hat. Ende des Beispiels.
Was ich mit diesem Beispiel zeigen möchte ist,
wie oben schon erwähnt, die rote Linie, bzw. der rote Faden. Manchmal begegnet einem ein Thema über einen kurzen Zeitraum immer wieder und wir glauben dann an so etwas wie ein „Phänomen“(s.o.) oder Zufall, aber es sind letztlich größere Zusammenhänge und rote Linien, die uns einen gewissen Blick verstellen. Der rote Faden war hier einfach zu erkennen: Äthiopien, aber die roten Linien waren viel zahlreicher und sie verlaufen direkt vor unserer Nase. Euer (Unser) roter Faden ist kurz, eigentlich nur eine Eintagsfliege und er reißt oft ab, wenn ihn die Nachrichten uns nicht hin und wieder einmal einfädeln. Sicher, die übertreiben auch oft und man kann sich nicht um jedes Problem kümmern, aber das ist das Problem, die rote Linie an der Stelle sollten wir selbst ziehen können und dafür muss immer ausführlich berichtet werden. Die rote Linie um Tigray ist nun also geblieben, das wissen wir. Auch der Beigeschmack im Kaffee wird hoffentlich eine Zeit lang bleiben. Das Leben an sich ist eine Red Line Challenge. Nicht unbedingt für die Privilegierten, aber für die anderen. Es geht immer und überall um rote Linien. Der Staat macht Gesetze, er definiert die harten roten Linien, um uns zu schützten und uns anzuzeigen, wo Gefahr droht. Ohne diesen Gesellschaftsvertrag ist kein Zusammenleben möglich. Eine dieser roten Linie zu überschreiten bedeutet Sanktion, das unerlaubte Übertreten dieser Linien wird bestraft. Wir brauchen rote Linien, aber es reicht nicht, dass sie vorhanden sind, wir müssen sie auch kennen und wir müssen legale Wege schaffen sie zu übertreten.
„Unwissenheit schützt vor Strafe nicht.“
sagt man und das stimmt, aber besonders in der heutigen Zeit, in der die Digitalisierung in Hochtechnologiestaaten fast alle Lebensbereiche durchzieht, ist die gesellschaftliche Spaltung besonders groß. Größere Spaltung bedeutet in diesem Kontext, dass rote Linien schärfer werden, Grenzen werden von unten nach oben undurchlässiger und das ist etwas, das man überall beobachten kann, überall sind Grenzen, die unüberwindbar scheinen und um die wird es mir auf meiner Tour immer wieder gehen. Denn oft ist es so, rote Linien führen zu Ausgrenzung und Ausgrenzung führt zur Flucht.
Es geht also immer um Grenzen,
um die eigenen, um die von anderen, um die von einzelnen, um die von uns allen. Ich möchte einfach mehr verstehen. Einfach mehr und dafür muss ich mehr wahrnehmen. Ich denke, viel mehr, als das zu versuchen, mehr zu verstehen, mehr wahrzunehmen kann ein Einzelner nicht tun, um einen kleinen Blick auf das große Ganze zu bekommen, das uns am Ende doch verschlossen bleibt. Ich habe bereits verstanden, dass es rote Linien gibt und dass sie eine Funktion erfüllen, dass sie verwischen können oder sich verschieben, dass sie lang sind oder kurz und dass sie immer eine eigene Geschichte haben. Ich möchte ein paar dieser Geschichten erzählen, Geschichten von roten Linien und vor allem die Geschichten von den Menschen dahinter. Habt ihr vorher schon mal etwas von Tigray gehört? Ich nicht, aber es gab einen Bericht in der Tagesschau. Einen von vielen, die uns täglich erreichen, aber auch hier werden viele irgendwann eine rote Linie ziehen müssen, selbst die Wohlwollensten können sich nicht um jeden bemühen, menschliche Kraft ist begrenzt, eine rote Linie, die durchaus individuell verschiebbar ist, aber nicht endlos weit. Manche rote Linie ist starr, festgelegt und unzerstörbar, bei manch einer ist das gut, bei manch einer anderen eine
Ich wünsche dir ganz viel Kraft und Durchhaltevermögen für diese anstehende Reise. Tolle Gespräche und nette Menschen denen du begegnen wirst und harte Nerven für Unschönes und Leid auf das du treffen wirst.
Du schaffst das!
Danke dir 🙂 das hoffe ich auch!